Der 21. August 1968 als Geschichtszeichen*

von Rudolf Walter

Das Wort „Geschichtszeichen“ stammt von Kant, der es ins Lateinische übersetzte mit „signum demonstrativum“ oder „signum memorativum“. Kant charakterisierte mit dem Begriff die Französische Revolution, in der er – trotz Ultra-Jakobinismus, Terror und anderen Grausamkeiten – „eine Tendenz für das Fortschreiten zum Besseren“ und „eine Revolution … in den Gemütern aller Zuschauer“ sah.

Bezieht man den Begriff „Geschichtszeichen“ nicht auf die Französische Revolution, sondern auf den 21. August 1968, konstruiert man ein Paradoxon, denn Kant meinte mit dem Wort – alles in allem genommen – „eine Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen“ oder eine politisch-moralische Errungenschaft, wenn man denn das Wort „Sieg“ vermeiden möchte. Andererseits war der 21. August 1968 in Prag eine Niederlage und eine Katastrophe. Aus meiner Perspektive lässt sich das Paradox auflösen – biographisch und historisch-politisch.

Ich verbrachte den 21. August 1968 in einer Zigarettenfabrik in Neuchâtel in der Schweiz, wo ich während der Semesterferien arbeitete. Wir hörten damals den ganzen Arbeitstag lang stündlich die Nachrichtensendungen an Transistorradios. Zunächst mochte ich gar nicht glauben, was ich hörte. Ich erinnere mich, dass Arbeiter im Alter meines Vaters hemmungslos weinten. Mich berührten die Vorgänge in Prag auch, aber ich hielt die Ereignisse noch längere Zeit für eine bloße Wiederholung dessen, was 1956 – als ich noch Schüler war – in Ungarn passiert war. Erst als das Wintersemester im Oktober anfing, begann ich langsam zu realisieren, was man in Prag dauerhaft zerstört hatte.

Die verspätete Einsicht verdanke ich dem verstorbenen Philosophen und Marx-Biografen Arnold Künzli. In seinem Seminar erfuhr ich erstmals vom „Richta-Report“, von Eduard Goldstückers Arbeiten und anderen grundlegenden Texten der tschechischen Reform-Kommunisten des „Prager Frühlings“. Das Thema eines zeitgemäßen Sozialismus zog mich so in Bann, dass ich das Hauptfach wechselte und fortan Geschichte und Philosophie studierte. So viel zum biografischen Aspekt des Geschichtszeichens vom 21. August.

Die öffentliche oder historisch-politische Dimension des Geschichtszeichens vom 21. August wurde absehbar in dem Maße, wie man erkennen konnte, dass der 21. August nichts Geringeres war als der Dreh- und Angelpunkt zwischen einem Sozialismus mit demokratischen und pluralistischen Ansprüchen und den verschiedenen Formen eines etatistischen und autoritären Kommunismus, d.h. des Stalinismus, Maoismus etc.

Noch im Laufe des Jahres 1968 begann der langsame Zerfall der studentischen Protestbewegung in Europa in stalinistische, kommunistische, maoistische Gruppen, in der sich die Mehrheit der Protestbewegung bewegte. Ihrem Selbstverständnis nach Parteien, waren diese Gruppen tatsächlich nur ein Haufen kleiner Sekten von politisch Verblendeten und kulturell hinterwäldlerisch Verbohrten. Für sie war der 21. August kein Geschichtszeichen, sondern eine verdiente Quittung für jene, die sie in ihrem Jargon „Reformisten“ oder „Revisionisten“ nannten.

Die Minderheit der deutschen Studentenbewegung hat den Zerfall der Bewegung nicht aufhalten können, aber sie hat den 21. August als politisches Erbe bewahrt. Auch die Minderheit hat sich oft geirrt, aber dieses Erbe hat sie nie verraten. Es gab damals zwei politische Fallen: die Falle der Geschichtsphilosophie und jene des intellektuellen und politischen Defaitismus.

Die säkulare Geschichtsphilosophie, wie sie im 18. Jahrhundert entstand, beerbte die jüdisch-christliche Tradition der Offenbarung. Wie der Glaube und die Religion funktioniert auch die Geschichtsphilosophie als Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und der allemal unsicheren Zukunft, deren prinzipielle Unvorhersehbarkeit religiös bzw. historisch-spekulativ unterlaufen und wegdisputiert werden sollte. Alle geschichtsphilosophischen Konzeptionen bilden in einem strikten Sinne ein mehr oder weniger kohärentes Universum von Hoffnungen und Erwartungen oder eine Versicherung gegen die Zufälle, Unsicherheiten und Unannehmlichkeiten des Lebens. In der Geschichtsphilosophie wird das religiöse Erlösungsversprechen ersetzt durch den unerschütterlichen Glauben an Fortschritt und Humanität, die angeblich die letzten Ziele der Geschichte darstellen und die die Erwartungen der Menschen in die Ordnung, die sie selbst gestiftet haben, intellektuell befeuern sollten. Geschichtsphilosophie macht „die“ Geschichte zum Subjekt, zur Stellvertreterin des allwissenden Schöpfergottes. Die Geschichte als Super-Subjekt ist das Leitmotiv der politischen Philosophie des 19.- und großer Teile des 20. Jahrhunderts. Diese Form des erwartungs- und fortschrittsgewissen Historismus ist definitiv in einer Krise seit 1914 und brauchbar allenfalls noch für Leitartikel und Festreden.

Marx ist – hinsichtlich der Geschichtsphilosophie – der Haupterbe der hegelianischen Konzeption. Marx ersetzte den Weltgeist Hegels durch das Proletariat, und die Marxisten haben das Konzept – zum Nachteil des Meisters – noch beträchtlich überboten, als sie behaupteten, es existiere mit dem Proletariat eine soziale Klasse, die über einen privilegierten Zugang zur Gesellschaftstheorie, zur Gesellschaftskritik und zur Wahrheit obendrein verfüge. Die in den K-Gruppen versammelten 68er haben sich redlich Mühe gegeben, diese abgestandene leninistisch-maoistische Bukolik zu hegen und zu pflegen. Sie gehört genauso in den Orkus wie die vom Historismus erzeugte Fortschrittstrunkenheit und Humanitätsduselei.

Die andere Falle, in die zu treten nach 68 drohte, war die Strategie des Vergessens und Vergessenmachens oder der intellektuelle und politische Defaitismus, den man landläufig Postmoderne nennt. Ich bevorzuge den Ausdruck „Hypermoderne“, weil die so genannte Postmoderne nicht über die Moderne hinaus gelangte, sondern nur einzelne von deren Zügen radikalisierte oder schlicht ad absurdum führte wie die radikale Vernunftkritik, die sich nur vernünftiger Argumente bedienen kann, um der Vernunft den Boden zu entziehen oder verstummen muss.

Im Kern beruht die hypermoderne Befindlichkeit auf einem banalen Kurzschluss. Die einfachste der Inkonsistenzen der Geschichtsphilosophie besteht darin, dass niemand die Zukunft exakt voraussehen kann. Diese triviale Feststellung verführte die Hypermoderne dazu, nicht nur die Möglichkeit von Zukunftsprognosen zu bestreiten. Darüber hinaus verneinen Hypermoderne die Möglichkeit jeder Theorie und jeder Wahrheit, selbst wenn diese nur zeitlich beschränkte Geltung beanspruchen. Hypermoderne akzeptieren nicht mehr, dass bessere Gründe und erweiterte Begründungsszenarien schlechtere Argumente und eingeschränkte Begründungen zumindest für begrenzte Zeit überholen oder ablösen. Die feierliche Verabschiedung dessen, was die Hypermodernen gerne „große Erzählungen“ nannten, endete im intellektuellen und politischen Defaitismus sowie einer offen anti-intellektuellen Attitüde: Jacke ist wie Hose und jede Theorie nur eine Art Poesie.

Für ziemlich viele Leute, die 1968 politisiert wurden, besteht das Erbe des Geschichtszeichens vom 21. August 1968 in der Überzeugung, dass es politisch wie wissenschaftlich Wahrheiten bzw. Lösungen von zeitlich beschränkter Geltung gibt zwischen der theologisch oder geschichtsphilosophisch begründeten Annahme einer einzigen, unteilbaren und ewigen Wahrheit und der defaitistischen Aufgabe jeglicher Wahrheitsansprüche unter der Flagge hypermoderner Beliebigkeit. Diese Wahrheiten bzw. Lösungen situieren sich entschieden oberhalb eines intellektuellen und politischen Defaitismus und ebenso entschieden unterhalb der peinlichen Zumutungen geschichtsphilosophischer Spekulation im Stil von Hegel und Marx oder gar der leninistisch-maoistischen Bauernphilosophie. Das politische Erbe des 21. August 1968 verwahrt gleichermaßen die Möglichkeit wie die Aufgabe, linke Politik zu reformulieren – oberhalb eines perspektivenlosen Pragmatismus und weit jenseits des etatistischen und autoritären Kommunismus. Kants politisch-moralische Philosophie enthält dazu ein, nicht das Fundament.

* Der Beitrag beruht auf einem gekürzten und ins Deutsche rückübersetzten Vortrags, den der Autor im Sommer 2008 in Luxemburg hielt:VI, 3 Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 7/8, 2008, S. 16 ff., UTV.

Der hier veröffentlichte Text ist ein Nachdruck aus: Rudolf Walter (2011): Aufgreifen, begreifen, angreifen. Historische Essays, Porträts, politische Kommentare, Glossen, Verrisse, Bd. 1. Münster: Oktober Verlag. 376 ff.